karl kurz, leipzigkleinſchreibung und volksgeiſt der neuen zeit
die gewerkſchaft deutſcher volksſchullehrer faßte auf ihrem letzten verbandstag einen beſchluß gegen die jetzt geltende rechtſchreibung, der eine kampfanſage ſchärfſter art iſt. in der »freien weltlichen ſchule«, heft 4 (1929) wird die rechtſchreibung als ein »verkapptes reaktionäres dreſſurmittel« bezeichnet: »die rechtſchreibung iſt eine förmliche geiſtige folter für die jugend, eine folter wie die übermäßige arbeitszeit, für deren herabſetzung die beſten menſchen jahrzehntelang gekämpft und gelitten haben ... deutſche rechtſchreibung, das iſt noch der unverfälſchte geiſt des militarismus, das iſt noch dreſſur zum gottbegnadeten untertanenverſtand und kadavergehorſam, das iſt noch die alte deutſche, autoritäre erziehung in reinkultur. die deutſche rechtſchreibung iſt ein hohn auf die demokratiſche erziehung. dieser unfug, den wir immer noch dulden, iſt die brutale rechtſchreibung des klaſſenſtaates, der den heranwachſenden an eben diesen heiligen klaſſenſtaat von ewigkeit zu ewigkeit zu gewöhnen versucht... ſchon durch seine geburt iſt das proletarierkind verurteilt, unter der rechtſchreibung ganz besonders zu leiden. die grundlage der rechtſchreibung iſt die ſchriftſprache, die 'vornehme' ſprache, die die proletariereltern nicht ſprechen. ſchon zwiſchen der 'richtigen' ſprache und der rechtſchreibung liegt ein weg, der lang und ſchwer genug iſt. doppelt lang und ſchwer iſt der weg von der mundart zur rechtſchreibung. zur mundart kommt die tatſache, daß arbeitereltern wenig zeit und geſchick haben, sich um die ſprachliche ausbildung ihrer kinder zu kümmern. bevorrechtet ſteht demgegenüber das 'vornehme' kind da. die ſchriftſprache, die die eltern ſprechen und so dem kinde übermitteln, erleichtern ihm die erlernung der rechtſchreibung. die eltern verfügen über mehr oder weniger erkaufte 'bildung'. ſie haben zeit, ihre kinder anzuleiten.«wir sehen, daß hier ein kampf ausgetragen wird, der in der gleichen richtung liegt, wie der kampf gegen den hiſtorismus auf andern gebieten, genau wie der kampf um die fraktur oder antiqua, der zugunſten der antiqua ſchon entſchieden iſt. als in rußland die arbeiter die macht in die hände bekamen, ſpielte auch die ſchriftfrage eine rolle, ebenso die rechtſchreibung, deren reform mit »größter entſchloſſenheit« durchgeführt wurde. der volkskommiſſar lunatſcharſki berichtete im berliner tageblatt vom 22. märz 1929: »und bei dieser gelegenheit fragten wir uns, ob man nicht gleichzeitig den entſcheidenden ſchritt zur völligen europäiſierung unsers landes wagen sollte, indem man unser jetziges halbgriechiſches alphabet durch die lateiniſche ſchrift ersetzte. die befürchtung, einen zu großen riß zwiſchen uns und der vergangenen kultur zu ſchaffen, ließ uns vorerſt auf diese maßnahme verzichten. hätten wir doch damit der nächſten und den folgenden generationen die verwertung des rieſenhaften, in alter ſchrift gedruckten literaturſchatzes, der ſich bei uns angeſammelt hatte, faſt unmöglich gemacht.«
profeſſor otto jeſperſen ſchrieb in derselben ausgabe des berliner tageblattes: »wie in andern ländern, fing man auch in dänemark im ſechzehnten und den folgenden jahrhunderten an, mehr und mehr wörter mit großbuchſtaben zu ſchreiben ... hier wie dort wurde das großſchreiben unter einfluß von philologiſchen ſchulmeiſtern allmählich an subſtantiven eingeſchränkt. außer den lehrern trugen die buchdrucker weſentlich zur herrſchaft des großſchreibens bei ... um 1800 kann das großſchreiben in subſtantiven als allgemein durchgeführt betrachtet werden. im neunzehnten jahrhundert fing aber eine bewegung an, mit dem ziel, diese pedantiſche regel loszuwerden und zu der in der übrigen ziviliſierten welt herrſchenden praxis überzugehen ... ſchweden verwendet in gewöhnlichen nennwörtern keine großbuchſtaben, und norwegen hat das kleinſchreiben offiziell eingeführt. in dänemark reichten ſchulmänner wiederholt bittſchriften ein, um in der ſchule den zwang der großbuchſtaben loszuwerden; bisher war das aber vergeblich ... die große konſervative zeitung 'nationaltidende' trat vor einigen jahren eifrig für die reform ein. in zeitungen und zeitſchriften ſieht man ziemlich häufig ſignierte artikel mit kleinbuchſtaben, während der redaktionelle teil ſtets mit der offiziellen rechtſchreibung gedruckt iſt. es iſt zu hoffen, daß die vernunft bald die pedanterie auf dieſem gebiet überwinden wird.« das wäre auch für deutſchland zu erhoffen!