friedrich oberüber, berlinkleinschreibung ist rechtschreiblicher fortschritt
die einführung der kleinschrift (einschrift) hat gewiß etwas bestechendes, und ich persönlich bin der überzeugung, daß man mit ihr allein ganz gut auskommen könnte . wie in früheren zeiten, so könnte man sich auch heute mit den schriftzeichen nur eines alphabets begnügen, ohne schaden für die verständlichkeit; telegraphie und stenographie beweisen das . eigentlich ist es ein unsinn, daß wir uns im zeitalter gesteigerten verkehrs und hochentwickelter technik mit verschiedenen alphabeten herumplagen müssen, um uns schriftlich verständigen zu können. aber so begrüßenswert die bewegung für die kleinschrift ist, so darf man bei der beurteilung dieser frage doch die ungeheuren schwierigkeiten nicht übersehen, die sich der einführung entgegenstellen . zunächst spielt die liebe gewohnheit hier eine große rolle; sie ist ein nicht zu unterschätzender hinderungsgrund für die vollständige beseitigung der großbuchstaben . vor allem aber ist nicht außer betracht zu lassen, daß alle kulturvölker, die sich unsrer schrift bedienen, die großbuchstaben bei satzanfängen und eigennamen (manchmal sogar noch darüber hinaus) anwenden . daraus entstehen für uns, wollten wir allein in deutschland zu der vollständigen kleinschreibung übergehen, wohl nicht zu meisternde widerstände .wir sind keine einsame insel im völkermeer, sondern mit tausend fäden wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, politischer und kultureller art mit allen völkern verbunden . daraus ergibt sich eigentlich schon, daß wir unsre schreibung dem internationalen gebrauch anzupassen haben . viele fremdsprachliche arbeiten werden in deutschland gedruckt, wozu wir buchdrucker die großbuchstaben benötigen . auch zum satz der meisten wissenschaftlichen werke werden die großbuchstaben gebraucht; ich erinnere an die international geregelten abkürzungen in botanischen, naturwissenschaftlichen und zoologischen werken . wir haben mit vielen elektrotechnischen und andern technischen kürzungen zu rechnen, mit medizinischen, astronomischen, juristischen, musikalischen und sonstigen fremdsprachlichen kürzungen, zum beispiel auch für münzen . niemand wird behaupten wollen, daß wir heute beim satz chemischer oder mathematischer formeln ohne die großbuchstaben auskommen könnten . denn die symbole haben internationale geltung, und ein kleinbuchstabe drückt da manchmal etwas anderes aus als ein großbuchstabe . folglich ist die einführung der reinen kleinschrift in deutschland nur möglich, wenn sie auch international als einschrift anerkannt und durchgeführt wird .
den hauptantrieb für die reformbewegung bei uns in deutschland geben unsre gerade auf dem gebiete der groß- und kleinschreibung ganz verworrenen rechtschreibverhältnisse . wir müssen sie daher hier kurz beleuchten . schon seit mehr als fünfzig jahren erstrecken sich die reformen auf einschränkung der großbuchstaben, mit denen die sogenannte »alte orthographie« reichlich übersetzt war . so beseitigte schon die erste orthographische konferenz im jahre 1876 eine ganze anzahl von großschreibungen. die orthographische konferenz im jahre 1901 setzte diesen marsch weiter fort, blieb jedoch auf halbem wege stehen . sie stellte am schluß ihrer verzwickten regeln über die groß- und kleinschreibung den grundsatz auf : »in zweifelhaften fällen schreibe man mit kleinem anfangsbuchstaben .« diese konferenz hatte, um den übergang zu erleichtern, neben vielen andern auch eine beträchtliche zahl von doppelschreibungen mit großem und kleinem anfangsbuchstaben zugelassen und für »richtig« erklärt . die damals mit vielen »hausorthographien« gesegneten buchdrucker waren enttäuscht; sie konnten mit einer solchen »rechtschreibung« nichts anfangen . dr. konrad duden, ein fortschrittlicher teilnehmer an der konferenz, wurde beauftragt, ein wörterbuch mit nur einer gültigen schreibung zu schaffen, die für alle buchdruckereien verbindlich sein sollte . diese »rechtschreibung der buchdruckereien deutscher sprache« (kurz »buchdrucker-duden«) erschien im jahre 1903 .
duden hatte in allen fällen, wo das amtliche wörterverzeichnis zwischen großen und kleinen anfangsbuchstaben die wahl ließ, in den »buchdrucker-duden« nur die kleinschreibung aufgenommen (ein vorgehen, dem die amtlichen regelbücher später nur zögernd folgten), weil dies der ganzen entwicklung der rechtschreibung entspräche . »die rückkehr zur großschreibung wäre ein rückschritt in der entwicklung unserer rechtschreibung«, meinte er mit recht . diese auffassung des altmeisters unsrer rechtschreibung sollten sich besonders diejenigen leute merken, die heute keinen andern ausweg aus dem auch von ihnen erkannten rechtschreibungswirrwarr wissen als die wiedereinführung der großschreibung unsrer »alten orthographie« . einer von ihnen, kapitänleutnant a. d. ruprecht, muß dabei zugeben, daß ein großer teil unsres volkes die rechtschreibregeln für die großschreibung, mögen sie noch so einfach abgefaßt sein, niemals anzuwenden lernt . wenn er noch hinzufügt, daß nur die geistig arbeitende »oberschicht« diese regeln unter allen umständen wird beherrschen können, so ist damit wohl das urteil über die großschreibung gesprochen . denn die rechtschreibung muß im gegenteil so gestaltet werden, daß sie jeder normale mensch beherrscht; das sollte in unserm demokratischen zeitalter eigentlich eine selbstverständlichkeit sein .
aus rein praktischen gründen muß darum das nächste ziel der reform sein: abschaffung der großbuchstaben bei den sogenannten »haupt«wörtern; denn dieser großschreibung haben wir den kuddelmuddel zu verdanken . eine der größten fehlerquellen wäre mit der beseitigung dieser großschreibung verstopft, die andre länder (außer dänemark) nicht kennen. überspitzte »feinheiten« und widersprüche wären dann mit einem schlage beseitigt, zum beispiel: in bezug, aber: mit Bezug; in betreff, aber: in Betracht; es geschieht ihm recht, aber: es geschieht ihm Unrecht; bis ins unendliche reden, aber: bis ins Endlose reden; er läuft sack, aber: er läuft Stelzen . es würde zu weit führen, hier auf die zahllosen unerklärlichen tüfteleien näher einzugehen; ich will nur noch auf die rechtschreiblich geradezu ungeheuerlichen auswüchse der mal-schreibung hinweisen . auch vom rein wissenschaftlichen standpunkt betrachtet, ist die großschreibung der dingwörter nicht mehr aufrechtzuerhalten, wie dr. phil. theodor steche in der diesem hefte beiliegenden nr. des »sprachwarts« eingehend darlegt .
die hier befürwortete großschreibung von eigennamen muß aber auf das notwendigste maß beschränkt und fest umgrenzt werden, so daß jede willkür ausgeschlossen wäre . die großschreibung unbestimmbarer titelhafter begriffe ist ein unfug . solche verschwommenen begriffe wie die »Heiligen Drei Könige« (so die 10. auflage des duden; die bis zum jahre 1929 gültige 9. auflage des duden schrieb noch: die heiligen drei Könige) haben nichts mit eigennamen zu tun . oder findet jemand eine erklärung für die duden-schreibungen: das Augusteische Zeitalter, das wilhelminische Zeitalter; das Linnésche Pflanzensystem, das kopernikanische Weltsystem; die Geißlersche Röhre, die voltaische Säule usw. ? eine geregelte rechtschreibung auf internationaler grundlage, wie sie auch paul renner, der direktor der münchener meisterschule, befürwortet, führt aus den wirrnissen der groß- und kleinschreibung heraus . sie ist das zunächst zu erstrebende und zweifellos auch erreichbare ziel einer reform .