dr. otto bettmann, berlinfraktur - antiqua - kleinschreibung
viele kreise glauben immer noch, die kleinschreibung als modische angelegenheit abtun zu können . sie meinen, daß es sich hier um probleme handle, die »künstlich«, ohne innere berechtigung heraufbeschworen seien und von bestimmten gruppen aus neuerungssucht propagiert würden .das ist ein irrtum . die fragen der kleinschreibung tauchen heute nicht zufällig auf, und nicht aus sensationslust stellt man sie zur debatte . die gegenwartssituation der schrift vielmehr drängt diese probleme in den vordergrund und verlangt gebieterisch von unserer zeit eine lösung .
der ganze fragenkomplex berührt sich mit dem streit um fraktur und antiqua, der heute einer klärung entgegengeht . nachdem hier mehr und mehr zugunsten der antiqua entschieden wird, tritt automatisch das problem der kleinschreibung in den vordergrund . in den zeiten der frakturherrschaft war es nicht von solcher aktualität, denn rein ästhetisch bilden in der »deutschen schrift« die versalien keine fremdkörper . so lag kein unmittelbarer anlaß vor zur propagierung der kleinschrift . erst in der antiqua zeigt sich die problematik der großbuchstaben auch nach außen hin . der übergang zu dieser schriftgattung gibt erst den anstoß, auch über den logischen, inneren wert der großbuchstaben rechenschaft abzulegen . die überzeugung setzt sich durch, daß mit dem übergang zur antiqua zugleich der zweite schritt getan werden müsse zur kleinschreibung, daß ein voller angleich an die antiqualänder sich vollziehen müsse, die länder der kleinschreibung sind .
die heutige situation hat eine parallele . auch am beginn des 19. jahrhunderts wogte in deutschland der kampf zwischen fraktur und antiqua, und damals schon setzten sich die anhänger der altschrift energisch für die ausmerzung der großbuchstaben ein, während die frakturfreunde gegner der kleinschreibung waren . jakob grimm hat diesen zusammenhang mit aller deutlichkeit nachgewiesen . im vorwort zum deutschen wörterbuch betont er, daß die fraktur erst »den albernen gebrauch großer buchstaben für alle substantiva« veranlaßt habe . die rückkehr zur antiqua bedeutet für ihn logisch auch den übergang zur kleinschreibung .
es muß versucht werden, diesen zusammenhang von fraktur und versalverwendung, antiqua und kleinschreibung durch die historische rückschau zu klären . die geschichte der europäischen schrift bis zur erfindung des drucks verläuft, wie bekannt, in drei abschnitten . auf die steinschrift folgt die gebrauchsschrift, und aus ihr entwickelte sich die kalligraphische kunstschrift des 12. jahrhunderts . jede dieser gattungen erscheint auskristallisiert in einem typus: in der römischen kapitale, der karolingischen minuskel, der gotischen bruchschrift . vorwiegend auf denkmälern mit dem meißel gestaltet ist die römische kapitale konsequente majuskelschrift, wenn man diesen neueren begriff auf sie anwenden darf . die christlichen skriptoren übernehmen diese form zunächst ohne veränderung und runden die buchstaben erst im liufe der zeit zur unziale ab, die dem neuen schreibgerät und schreibstoff mehr entspricht . auch die unzial-manuskripte sind reine majuskelgestaltungen . alle schrift ist »einschrift« . ohne hervorhebung oder betonung, bis auf die kapitelanfänge, reiht sich buchstabe an buchstabe, ohne rücksicht auf den sinn, die innere logik der sätze . erst ein wandel im schreibgebrauch bahnt die trennung von groß- und kleinbuchstaben an . zwischen dem 4. und 6. jahrhundert wird die satztrennung eingeführt, um ein sinnvolles, »distinktes« lesen zu ermöglichen . viele schreiber, in dem wunsch, die logische gliederung hervortreten zu lassen, beginnen mit jedem satz eine neue zeile . aber das bedeutet verschwendung des teueren pergaments . deshalb sucht man in anderer weise die satzanfänge zu markieren . man vergrößert die schrift beim beginn eines satzes, steigert den ersten buchstaben über das normalimaß hinaus . so gelangt die initiale, die vordem höchstens am anfang des buches oder des abschnitts stand, in den text hinein .
die zunahme des schreibens führt in den nächsten zwei jahrhunderten zu einer grundsätzlichen wandlung der schrift . die kapitale und die unziale schrift werden im täglichen gebrauch ihrer monumentalen form beraubt . durch einen übergang von gemalten zu schreibmäßigen lettern ergibt sich eine weniger komplizierte gebrauchsschrift, die es erlaubt, das tempo des kopierens zu beschleunigen . nach der jüngeren römischen kursivschrift und der halbunziale entsteht im 8. jahrhundert als höchster ausdruck dieses typus die karolingische minuskel . begann die schrift ihre laufbahn als majuskel-einschrift, so bildet sich hier das erste konsequente minuskel-alphabet .
auch die minuskelschreiber brauchen für die markierung der satzanfänge betonte buchstaben . die karolingische schrift als reine gebrauchs- und minuskelschrift vermochte sie nicht zu entwickeln . man vergrößerte gelegentlich die karolingischen buchstaben zur charakterisierung der satzanfänge oder behalf sich durch die alten majuskelschriften: kapitale und unziale . durch diese mischung kam ein zwiespalt in die schrift, denn der klassisch »monumentale« duktus der kapitale wollte nicht mit dem pennalen (federmäßigen) charakter der karolingischen minuskel zusammenpassen .
die nächste epoche der schriftentwicklung wandelt das verhältnis der groß- und kleinbuchstaben . von frankreich kommend, gewinnt die gotik während des 11. und 12. jahrhunderts dominierenden einfluß auf das schreibwesen . die runden formen der minuskel, die durch das rasche kopieren ganz natürlich entwickelt haben, werden zurückgedrängt . brechungen, spitzen im duktus treten hervor . aus dekorativer absicht verändern die mönche das schriftbild in dieser richtung .
jenseits ihrer praktischen bestimmung als lesezeichen werden die buchstaben zu trägern des ornaments . die gotische schrift ist kunstschrift, kalligraphisches erzeugnis, im gegensatz zur karolingischen minuskel .
der zug zum dekorativen, wie er die buchseite beherrscht, kann sich besonders in den großbuchstaben entfalten . die steigende beschäftigung mit den initialen läßt ein majuskel-alphabet entstehen, das mit den minuskeln eine einheit bildet .
der ausbau der gotischen großbuchstaben führte dazu, versalien in steigendem maße zu verwenden . bediente man sich bis zum 12. jahrhundert der majuskeln sparsam, nur zur markierung der satzanfünge und, einem brauch des urkundenwesens folgend, zur wiedergabe von eigennamen, so treten sie in der gotik schon häufiger und regelloser auf . die gegensätzlichkeit von karolingischer minuskel und gotischer kunstschrift erklärt zugleich die verschiedenartige bedeutung in antiqua und fraktur .
die antiqua entstammt der kleinschrift des 8. jahrhunderts . vor beginn des drucks griffen die humanisten auf die karolingischen manuskripte zurück, weil sie im klassischen gewand hier texte des altertums zu finden meinten . jene verschnörkelte, dekorative schrift des 12. jahrhunderts aber lehnten sie als barbarisch ab und bezeichneten sie verächtlich als »gotisch«. von ihr leitet sich die fraktur her .
in der antiqua konnten die versalbuchstaben nie dominierend werden, weil die mutterschrift reine minuskelgestaltung war. schon die anwendung der großbuchstaben in den satzanfängen bedeutete einen kompromiß, denn diese lettern entstammten früheren epochen der schrift und verbanden sich nicht organisch mit dem aus der minuskel abgeleiteten alphabet .
anders lag der fall bei der fraktur . hier hatte sich ein versalalphabet gebildet, und selbst in der mischung von groß- und kleinbuchstaben ergab sich ein harmonisches bild . so verwandte man in der fraktur, stolz darauf, eine so dekorative schrift zu besitzen, die majuskel auch da, wo der sinn es gar nicht erforderte. diese entwicklung läßt sich auch nach der erfindung des drucks weiter verfolgen . während die romanischen länder nach anfänglicher kultivierung der gotischen schrift zur antiqua und damit zur kleinschreibung übergehen, tritt in deutschland die fraktur in den vordergrund, und immer zügelloser entfaltet sie ihre majuskelformen . der gebrauch der versalien nimmt zu. willkürlich verwenden sie die drucker, entgegen dem ursprünglichen sinn, auch in der satzmitte . sie meinen, daß dieser brauch »der teutschen sprach ein zierd seye« . dabei werden diese majuskeln, in denen der gotische dekorationswille weiterschwingt, mit einer solchen menge von schnörkeln und verzierungen ausgestattet, daß die urform kaum noch erkennbar ist .
die verfehlungen im gebrauch der majuskeln treten offen zutage, als im barock die fraktur-entwicklung einen höhepunkt erreicht . die zeitgenossen schon wenden sich gegen die entwertung der versalien durch schrankenlosen gebrauch . »anfangsbuchstaben«, so heißt es in der »kunstreichen schreibart des paulus fürsten«, 1690, »werden versal genennte, weil sie am anfang des verses stehen, zu anfang der ersten zeile, zu anfang der eigenen namen .« heftig kritisiert man es, daß die großbuchstaben darüber hinaus von den setzern in dekorativer absicht verwendet werden : »es findet sich in den druckereyen kein geringer mißbrauch« – so heißt es weiter – »indem man alle selbständige wörter mit einem versal zu setzen pflegt, welches aber in den alten büchern nicht zu finden und nicht recht ist .«
werden damals schon in den zeiten der frakturherrschaft die versalien am anfang der substantive als mißbräuchlich empfunden, so tritt der zwiespalt noch offener zutage, als man im 18. jahrhundert die antiqua wiederentdeckt . der brauch der großschreibung, der nur in der fraktur sich entwickeln konnte, führt schon ästhetisch beim übergang zur antiqua, die reine minuskelschrift ist, zu unstimmigkeiten .
so kann die historische betrachtung, die sonst in dieser zeit des neuaufbaus kaum auf gehör rechnen darf, in den kampf um die kleinschreibung mit folgenden thesen, dem fortschritt dienend, eingreifen : die ursprüngliche und reine, unverfälschte mission der großbuchstaben ist die charakterisierung der satzanfänge . in der karolingischen minuskel und den anfängen der antiqua bleibt dieser brauch bestehen . in der gotik und im zeitalter der fraktur verführen dekorative absichten zur häufung der versalien . der übergang zur antiqua führt so auch notwendig zurück zur ursprünglichen, sinnvolleren kleinschreibung .