die kleinschriftbewegung

typographische mitteilungen, zeitschrift des bildungsverbandes der deutschen buchdrucker, berlin, 28. jahrgang, mai 1931, seite 127
diplomkaufmann wilhelm schmidt, hannover

für schriftvereinfachung

bei aufgaben von hoher bedeutung handelt es sich in erster linie um feststellung der frage, ob und welcher nutzen zu erwarten ist / diese frage haben sich viele hervorragende fachmünner, deutsche dichter, sprach- und schriftforscher vorgelegt, jahrelang reiflich erwogen und auf grund von versuchen bejaht / es sind dicke bände über die kleinschrift gedruckt und verbreitet worden, unter anderm vom schriftleiter und herausgeher der zeitschrift »aufwärts«, hans wagner in leipzig / überzeugt vom hohen wert der neuen schrift sind auch die »umschau« in frankfurt am main, die »baseler bürofach-ausstellung« und viele wirtschaftler / auch die lehrer und lehrervereine sind der kleinschrift und der lateinschrift sehr zugetan und ersehnen deren einführung in der schule, denn die schulkinder hätten unglaublichen nutzen davon / ein in der »sächsischen schulzeitung« vom 26. februar 1930 gebrachter aufsatz bespricht den ungeheuren nutzen der reformen, die jedem schreibenden willkommen sein würden

den vorwurf der häßlichkeit der kleinschrift muß ich als unberechtigt zurückweisen; denn diese schrift ist schön, ruhig, harmonisch und sehr gut lesbar / auch das bauhaus dessau hat den wert der kleinschrift erkannt und erstrebt deren verbreitung und allgemeine einführung / bis zum 16. jahrhundert fand man nichts häßliches und charakterloses in der kleinschrift / zur besseren hervorhebung der klein geschriebenen satzanfänge verhilft ein schräger strich; dieser trennungsstrich ist wirksamer als der punkt / daß die lateinschrift die augen und nerven mehr angreife als die deutsche schrift, beruht wohl auf dem ungewohnten schriftbild oder auf einbildung / die vorzüge der lateinschrift sind überwiegend, allein schon durch ihre eignung zur weltschrift / da wir uns nun einmal zum großreinemachen aufgeschwungen haben, sollte auch aus dem wust anderer altertümlicher plunder verschwinden, nämlich die römischen zahlen und zahlbuchstaben

es muß noch hingewiesen werden auf besondere aus der mischschrift erwachsene schwierigkeiten / dazu gehören die streitfragen, ob einzelne wörter groß oder klein geschrieben werden müssen, worüber sich mitunter sogar die gelehrten nicht einigen können / darunter haben aber besonders die kinder in der schule zu leiden, und nicht selten auch erwachsene und sogar gebildete / man wolle ferner bedenken, daß die kleinschrift die ursprüngliche schrift ist / über die mischschrift fällte der schriftsteller fritz müller (partenkirchen), am 12. august 1929 ein vernichtendes urteil: »die großen buchstaben sind ein luxus / sie verdanken ihre entstehung einer spielerei / dazu haben wir heute keine zeit mehr / auch die meisten andern sprachen habcn ihre großbuchstaben auf die eigennamen beschränkt« / nach anhörung aller gründe und gegengründe kann es bei vorurteilsfreiem überdenken der sachlage jedem menschen (auch dem laien) nicht schwerfallen, den neuerungen zuzustimmen