die kleinschriftbewegung

typographische mitteilungen, zeitschrift des bildungsverbandes der deutschen buchdrucker, berlin, 28. jahrgang, mai 1931, seite 124
professor theodor lessing, hannover

die großbuchstaben werden verschwinden !

es ist wohl selbstverständlich, daß jeder schriftsteller, und so auch ich, über schriftbild, rechtschreibung, drucktypen, buchausstattung beständig nachdenkt; aber ich muß ihnen, als männern vom fach, gestehen, daß gewisse fraglichkeiten mir nie ganz klar geworden sind . so ist es mir nicht klar, ob es wohl wünschensivert wäre, eine deutsche einheits- und idealtype zu besitzen; denn vielfalt und buntheit der druckformen, deren jede buchdruckerei wieder neue aufbringen kann, ist beunruhigend für das auge, und da jeder tag immer neue stöße bedruckten papiers, nicht nur zeitungen und bücher, sondern auch reklamen, prospekte, programme, aufrufe usw. ins haus weht, so könnte uns wohl der wunsch anwandeln nach einer idealen einheitstype, dank deren den augen arbeit gespart wird und das lesen für jedermann müheloser wird . anderseits aber ist gerade die fülle immer neuer möglichkeiten wertvoll . wenn ich so wundervoll einfache und klare formen sehe wie die futura oder die weiß-antiqua, dann wünschte ich wohl freiheit des spielraums für alle künstler des buchdrucks . und sollte nicht möglicherweise jedes druckwerk eine schrift benötigen, die gerade seinem charakter entsprechend ist ? es handelt sich ja doch nicht immer um trockene mitteilungen . ein werk der mathematik und ein werk der mystik, eine schwere ernste abhandlung und ein liebliches heiteres kinderspiel erfordern vielleicht auch verschiedene augenbilder . indessen, was sich da immer auch sagen ließe, in zwei punkten glaube ich gesichertes zu sehen; erstens: die großbuchstaben müssen fallen; zweitens: die alte fraktur ist eine untergehende und mit recht untergehende type . ich weiß nun wohl, was sich alles vorbringen läßt zugunsten der beiden eigentümlichkeiten . es sind deutsche eigentümlichkeiten, gewurzelt in zahllosen überlieferungen deutscher vergangenheit, und alle die kämpfer für die gotische schrift und die großen anfangsbuchstaben schöpfen aus dem konservativismus des gefühls und glauben zu handeln im sinne der deutschen volksseele .

es ist ja auch richtig : die formenden eindrücke unseres lebensweges, unsere schönsten stunden und liebsten erinnerungen haben uns mit der alten frakturschrift verknüpft . da stehen noch in den börten und schränken die alten lieblingsbücher, an denen wir uns herangebildet haben; da blieben uns vor augen die geliebten schriften der eltern und der großeltern; da lernten wir bewundern die großen schriftdenkmale der deutschen geschichte, die imposante schrift bismarcks, die harmonische goethes, die schriftzüge der alten kaiser, der kriegshelden, der musiker, der dichter, und sie alle schrieben deutsche zeichen . in einem zeitalter, wo alles und jedes sofort »politisch« wird, keiner mehr unbefangen nachdenkt und die nationalen egoismen in allen lindern wüst widereinanderstrudeln, da ist auch der kampf: »hie antiqua - hie fraktur!« so etwas wie ein kampf des internationalen denkens mit den nationalen und völkischen widerständen . und doch ist das alles ganz kurzsichtig und oberflächlich . das geistige werk ist sache der geistigen gemeinde, und sogar die machtpolitik der völker ist zuletzt davon abhängig, daß die geisteswerke überall lesbar, leicht lesbar und weithin verständlich sind . darum hat man ja die wissenschaftlichen werke zuerst in lateinischer sprache und späterhin überall in lateinischen lettern gedruckt, während doch zum beispiel für gedichtbücher die romanische schrift unerhört schien . wie oft habe ich von freunden im ausland gehört: »bitte schreiben sie nicht gotisch, wir können diese schrift nur schwer lesen« . es ist für ätere leute, die ein ganzes leben lang deutsch geschrieben haben (es ist übrigens noch die frage, ob unsere schulschrift und die fraktur wirklich »deutsch« ist!), sehr unbehaglich, sehr mühsam, umzulernen und nur die »lateinische« schrift zu benutzen . und doch wird es geschehen müssen . die schulen fordern mit recht einheitsschrift . wir stehen im austausch mit der ganzen von menschen bewohnten erde, und wir können unmöglich mit einer privatschrift weltwirkung beanspruchen . davon abgesehen sind die vorzüge der antiqua augenscheinlich, sind längst erkannt und anerkannt: die leichtere lesbarkeit, die wohltat fürs auge, die schönheit, klarheit, einfachheit . immerhin bin ich in dieser frage nicht fanatisch gestimmt . anders aber ist die stimmung gegenüber der zweiten frage: große oder kleine anfangsbuchstaben; denn für große anfangsbuchstaben sehe ich überhaupt keine gründe ! das pochen auf die überlieferung, auf geschichte und alte gewöhnung ist ja keineswegs triftig . die regel: »hauptwörter sind groß zu schreiben«, übersieht, daß im rhythmischen strome der sprache das grammatische hauptwort oft das nebensächliche wort wird: wir opfern den sinn unserer sätze den schematischen formen ! keine sprache außer der deutschen schleppt sich mit dem unfug . und wozu schwerfällig, überflüssig, weitläufig sein, wo wir leicht und kurz und sinnvoll zu sein vermögen ? es handelt sich da nur um den guten willen . hat man erst ein paar jahre ohne majuskeln geschrieben und gedruckt, dann weiß kein mensch mehr, daß es früher anders war, daß es früher anders hat sein können !

wenn heute eine große tageszeitung wie das »berliner tageblatt« den mut hatte, zur antiqua überzugehen, so bringt das zunächst vielleicht einen ausfall . manche leser scheuen den ungewohnten satz . haben sie erst einige monate lang sich an die neuerungen gewöhnt, so empfinden sie die annehmlichkeit für das auge, und zuletzt werden sie gerade umgekehrt die alte frakturschrift als unbequem und sehr unpraktisch empfinden .

machen sie mir nun aber ja nicht zum vorwurf, daß ich von diesen theoretischen erkenntnissen praktisch keine anwendung mache . das kann ein einzelner gelehrter gar nicht . rein wissenschaftliche darlegungen lassen sich in absoluter kleinschrilt durchaus verständlich veröffentlichen . würde ich aber heute, wie ich es wohl möchte, meine bücher nur in kleinschrift drucken lassen, so würde es heißen: eigenbrötler, schrulle, eitelkeit, sonderling, und man würde in ablehnender voreingenommenheit, indem man sich über die form aufhält, auf den inhalt gar nicht eingehen !

aber natürlich ändert sich nichts »von selbst« . einer muß anfangen . nicht aber als privatmann, sondern als sprecher der öffentlichen meinung . und da scheint mir der bildungsverband der deutschen buchdrucker, der ja auch starke unterstützung in der frage der kleinschreibung bei der lehrerschaft findet, die berufenste aller instanzen . sie muß die kleinschriftbewegung hochbringen und ihre notwendigkeit möglichst vielen menschen zu bewußtsein bringen ! diesen gedanken hat ja kein einzelner zu seinem privatgebrauch ausgeheckt ! er kommt aus dem geiste der zeit . daher ist er unbesieglich !